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© Beth Macdonald / unsplash.com

24.06.2022 / Wie Muslime und Christen einander begegnen können. / Lesezeit: ~ 4 min

Autor/-in: Redaktion ReachAcross

Mein muslimischer Nachbar

Sechs Tipps für ein gutes Miteinander im Alltag.

Menschen auf der ganzen Welt haben Alltagsprobleme. In jeder Kultur stellen sich ähnliche Fragen: Wie ernähre ich meine Familie? Wie ziehe ich meine Kinder groß? Wie verhalte ich mich dem anderen Geschlecht gegenüber? Diese Fragen werden sehr unterschiedlich gelöst. Wie man seinen Alltag gestaltet, nennt man auch Kultur (Kultur = Strategie zur Daseinsbewältigung). Für dieselben Probleme gibt es auf der Welt unzählige unterschiedliche Lösungen, die auch meistens ganz gut funktionieren.

Sich gegenseitig kennenlernen

Warum verhalten sich Muslime in unserem Land in einer bestimmten Weise und damit manchmal anders als wir? Dies besser zu verstehen, kann uns helfen, mutig auf unsere Nachbarn zuzugehen. Zunächst verunsichert Andersartigkeit. Und das gilt in beide Richtungen, in Bezug auf meine muslimischen Nachbarn, aber auch für meine muslimischen Nachbarn mit mir. Genau das kann zu einem Anknüpfungspunkt werden: Wir können diese Unsicherheit teilen und werden meist auf Verständnis stoßen.

Interesse am Mitmenschen

Gleichzeitig können wir echtes Interesse an der Andersartigkeit zeigen und so Neues lernen. „Wie erzieht ihr Eure Kinder? Wie lebst Du deinen Glauben? Was bedeuten Träume für Dich?“ Sich vor einer Begegnung ein paar Fragen zu überlegen, die einen interessieren, schafft Beziehung. Und man lernt aus direkter Quelle die Kultur der Migranten kennen. Entscheidend ist aber hier unsere Grundhaltung der fremden Kultur gegenüber. Die andersartigen Sitten und Gebräuche sind nicht besser oder schlechter als meine, sondern einfach nur anders, weil andere Bezugsgrössen den Alltag bestimmen.

Glaube im Alltag

Ein solcher Bezugsrahmen ist unter anderem die Religion. Der Islam bestimmt das ganze (Alltags-)Leben. Mohammed, der Verkünder des Islam, war Religionsstifter und Staatsmann zugleich. Der Islam hat sich in seinen Ursprüngen mit Hilfe der Staatsgewalt schnell ausgebreitet. Im Gegensatz dazu konnte sich das Christentum in seinen ersten drei Jahrhunderten trotz der feindlichen Haltung des römischen Staates etablieren. Das Leben in einem säkularen europäischen Staat empfinden Muslime deshalb oftmals nicht als Dauerlösung. Ihre Kultur lehrt sie, dass die Religionsausübung auch ausserhalb des Hauses oder der Moschee zum Alltag gehört. So lesen viele in der Öffentlichkeit den Koran oder verrichten ihr rituelles Gebet dort, wo sie gerade sind, wenn der Muezzin ruft.

Muslime, die uns besuchen, fragen in einer grossen Selbstverständlichkeit, ob sie zur Gebetszeit bei uns beten dürfen. Deshalb ist es für muslimische Migranten vertraut und keineswegs störend, wenn wir unseren Glauben genauso selbstverständlich leben und im Alltag einbringen wie sie. Es wird selten abgelehnt, wenn wir nach einem einfühlsamen Gespräch fragen, ob man noch für die Nöte beten darf. Muslime spüren genau, wenn es uns ernst damit ist.

Individualismus versus Gruppe

Die Familie als kleinster Teil der islamischen Weltgemeinde (Umma) ist viel wichtiger als das Individuum. Die Ehre der Familie steht über der Entscheidung des Einzelnen. Dies hängt mit einem weiteren Bezugsrahmen zusammen: Christentum und Islam haben zwar beide ihren Ursprung in einer schamorientierten Kultur, in welcher Ehre, Respekt und auch Reinheit eine wichtige Rolle spielen. Allerdings hat sich hier im Westen das Christsein eher zu einer persönlichen, individuellen Angelegenheit entwickelt. Natürlich bedeutet das nicht, dass durch die persönliche Beziehung zu Jesus Gemeinschaft mit anderen nicht mehr wichtig ist.

Aber der Glaube ist im Islam viel stärker ein Gruppenphänomen als eine individuelle Erfahrung. Gott ist im Islam nicht der Nahbare, nicht einer, der uns Menschen nahekommt. Entdeckt ein Muslim bei seinem Gegenüber eine lebendige, persönliche Beziehung zu Christus, kann das eine tiefe Sehnsucht wecken. Gleichzeitig ist es für Muslime schwer, als Einzelperson gegen die Ehre und den Respekt der eigenen Familie aus dem System auszubrechen. Für uns aus einer westlichen Kultur kann es deshalb hilfreich sein, die Hierarchien und Autoritäten in einer Familie kennenzulernen und auch dafür zu beten, dass Freiräume für den einzelnen entstehen können. 

Rollenbilder

Wenn muslimische Männer das Verhalten ihrer Frauen (zum Beispiel wie sie sich in der Öffentlichkeit kleiden) für die Ehre oder Unehre ihrer Familie verantwortlich machen, handeln sie zunächst einfach nach ihrem Empfinden und danach, wie es schon ihre Großeltern gelebt haben. Unser Ärger darüber oder angriffige Diskussionen zur Rolle der Frau verfestigen nur die Fronten. Das gelebte Vorbild kann dagegen Vorurteile aufbrechen und zu Fragen führen. Wenn Muslime erleben, wie wir in unserer Ehe miteinander umgehen, kann das ihre Sicht auf Rollenbilder verändern.

Umgang mit Zeit

Auch Zeit und Geld gehören im Orient nicht dem Individuum. Bei Einladungen haben meine Frau und ich immer wieder gesagt: „Wir fangen erst an aufzutischen, wenn wir sicher sind, dass sich unsere Gäste auf dem Weg zu uns befinden.“ Wie oft mussten wir sonst enttäuscht alles wieder abräumen, weil mit Versprechungen und Abmachungen in einer Schamkultur ganz anders umgegangen wird, als wir es gewohnt sind.

Fatal wäre der Schluß aus unserem Kulturempfinden: „Die Leute haben kein Interesse, sie meinen es nicht ernst, man kann sich nicht auf sie verlassen. Also hören wir auf, ihnen nachzugehen.“ Muslime denken eben anders: Wenn in der eigenen (Groß-)Familie spontan Bedürfnisse da sind, kann man nicht einen Fremden besuchen, auch wenn man es zugesagt hat. So wird Abmachungen immer ein „Inshallah!“ („Wenn Gott es will!“) beigefügt.
 

Dieser Artikel ist erstmalig erschienen in „ReachAcross Aktuell“, der Informationszeitschrift von ReachAcross Deutschland. Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.

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