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07.11.2017 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Jörg Kuhn

Meine Herkunftsfamilie am Tisch

Eine praktische Übung, um die eigenen Prägungen zu durchschauen.

Wenn wir an unsere Herkunftsfamilie denken, kommen uns positive und negative Dinge in Erinnerung. Es sind wesentliche Bestandteile unserer Biografie, die allgemein unterschätzt werden, weil im Lebenslauf meist mehr auf Schulbildung, Abschlüsse und Berufserfahrung geachtet wird. Dabei spielt unsere Ursprungsfamilie oft die wichtigere Rolle im Alltag als alle schulischen Tops und Flops. Was im Elternhaus lief, wird entweder als „normal“ nicht beachtet oder als schmerzhafte Erfahrung verdrängt. Üblicherweise findet eine Versöhnung mit der Biographie etwa in der Lebensmitte statt.

Manche Menschen setzen sich zusammen mit ihrem Partner stärker mit der Herkunftsfamilie auseinander, wenn sie Kinder haben. Sie tauschen darüber aus, wie Mutter- und Vatersein in der Herkunftsfamilie erlebt wurde und denken über die eigene Erziehung nach.

Es gilt die Grundkonstellationen, Prägungen und Stallgeruch der Kindheit zu durchschauen. Erst wenn ich etwas kenne, kann ich entscheiden, was sind Potenziale, Ressourcen, Kraftquellen oder Altlasten aus meiner Lerngeschichte.

Was ist einfach zu akzeptieren und was kann und will ich wie ändern? Was schätze ich an meinen Eltern, was will ich hinter mir lassen?

Von klein auf haben wir im Elternhaus gesehen, gelernt und eingeübt, wie ich mich sehe, wie ich mit anderen verglichen werde, welche Rolle Vater oder Mutter spielen. Uns wurde vorgelebt, wie Feste gefeiert werden, wie kommuniziert wird, wie Schwierigkeiten gelöst werden – oder auch nicht. Wir lernten, was wichtig und richtig, was unbedeutend oder falsch sein soll – oder wir kriegten gar keine Leitlinien und Grenzen, sondern eine überfordernde Selbstständigkeit und vereinsamende Freiheit. Jeder Bereich ist ein Thema für sich, der es wert ist unter die Lupe genommen zu werden.

Als einfacher Einstieg um die eigene Ursprungsfamilie etwas zu verstehen eignet sich gut die Übung mit dem „Familientisch“. Versetzen Sie sich in die Zeit die für Sie prägend oder wichtig war.

1. Malen Sie zuerst den Tisch Ihrer Kindheit

Rund, quadratisch, oval, lang und schmal, riesig oder klein – zeichnen Sie ihn, wie Sie ihn gefühlt in Erinnerung haben, nicht unbedingt maßstabsgetreu und exakt.

Der leere Familientisch
Der leere Familientisch

2. Zeichnen Sie die Stühle aller Mitglieder

Wer gehört zur Familie? Es müssen nicht nur Verwandte sein oder es kann jemand sein, der physisch nicht anwesend ist, aber enorm das Familienklima bestimmt, dann kann er auch einen Stuhl am Tisch kriegen.

Vielleicht ist der Hund so wichtig wie ein Mensch, dann geben Sie auch ihm einen Platz. Wo sitzt jede Person? Sie müssen nicht alle den gleichen Abstand haben. Wie nehmen Sie es in Erinnerung wahr?

Die Familie am Familientisch
Die Familie am Familientisch

3. Beschreiben Sie jedes Familienmitglied

Zwei bis drei prägnante Merkmale reichen. Was zeichnet den Vater aus? Wie ist er? Wie erleben Sie die Mutter?

Es geht nicht so sehr darum, einen genauen Tatsachenbericht zu erstellen, sondern wichtiger ist, wie Sie das Familienmitglied empfinden und gefühlsmäßig erleben in jener Zeit. Es ist möglich, dass Ihre Geschwister alles anders beschreiben würden. Es geht jetzt um Ihre subjektive Empfindung.

Beschreibung der Familienmitglieder
Beschreibung der Familienmitglieder

4. Schildern Sie die Rolle jedes Familienmitglieds

Fassen Sie seine Merkmale zu einem Oberbegriff zusammen. Das könnte sein: Dominanter, Kritiker, Sonnenschein, Hilflose, Unsichtbare, Held, Vertraute, Dampfmacherin, Clown, Star oder Sündenbock.

Jeder spielt in einem System eine gewisse Rolle. Welche Rolle hat jeder inne? Wie erleben Sie ihn oder sie? Welche Nische wird von wem belegt? 

Kinder entwickeln Methoden, um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu gewinnen oder zumindest negative Aufmerksamkeit zu vermeiden, oder einfach um aufzufallen. Dabei nehmen sie oft Rollen an, die ihre eigene, sich noch entwickelnde Persönlichkeit ständig überfordern. Das kann jedoch zu ihrer Überlebensstrategie gehören. Rollenverteilungen können sich ändern, wenn jemand den Tisch verlässt und ein Platz oder eine Rolle frei wird.

Rollen der Familienmitglieder
Rollen der Familienmitglieder

5. Erfassen Sie Wechselwirkungen

Was lief in der Tischgemeinschaft laut, verbal oder lautlos, atmosphärisch ab? Wer konnte gut mit wem? Wie war es mit Ihrem Bruder usw.? War es anstrengend, nervig oder lustig? Wie haben Sie es persönlich interpretiert? Wie waren die Beziehungen untereinander?

Durch Einkreisen wird deutlich, wer besonders miteinander verbunden war. Angriffe können mit Pfeilen gekennzeichnet werden, Rivalitäten mit Blitzen. Mit punktierten Linien und andern Symbolen können Sie weitere Interaktionen kennzeichnen.

Wechselwirkungen innerhalb der Familie
Wechselwirkungen innerhalb der Familie

6. Formulieren Sie das Familienmotto

Über jedem Familientisch schwebt etwas Atmosphärisches, was vielleicht immer wieder mal ausgesprochen wird oder geheimnisvoll vorhanden ist und gelebt wird.

Welche Atmosphäre herrscht zu Hause? Welche Regeln bestimmen? Was macht es schön, was unangenehm? Welche Botschaften werden oft ausgesprochen?

Das Familienmotto könnte zum Beispiel sein: „Wir Meiers zeigen keine Schwäche“, „Wir Müllers brauchen immer das Neueste“; „Bei uns geht jeder seinen eigenen Weg“, „Wir sind Arbeitstiere“, „Geld ist das Wichtigste“, „Erst die Andern, dann wir“.

Familienmotto
Familienmotto

Fazit für den Alltag

Wenn wir eine Partnerschaft oder Ehe eingehen, wir uns einer Wohngemeinschaft anschließen oder wir zu irgendeinem Team zusammengestellt werden, sind wir nie unbeschriebene Blätter auf denen man etwas ganz Neues gestalten kann. Unsere Herkunftsfamilie prägt uns viel mehr als uns bewusst ist oder wir oft wahrhaben wollen.

Bei tausend Gelegenheiten werden unsere Prägungen wie ein verstecktes Betriebsprogramm wirken, sodass wir nach bestimmten Abläufen funktionieren. Das zeigt sich, wenn wir unreflektiert Entscheidungen treffen oder unbewusst versuchen emotionale Defizite auszugleichen und unangenehme Situationen zu vermeiden.

Zum Beispiel hat jeder banale oder auch größere Konflikt eine Vorgeschichte, die den wenigsten bewusst ist. Und so werden Kämpfe häufig auf Nebenschauplätzen ausgetragen – oder vermieden, ohne die eigentlichen Hintergründe in der eigenen Biografie zu erkennen. Ein erster Schritt kann es also sein, die eigene Herkunftsfamilie zu verstehen, wie sie mich geprägt hat und mir im aktuellen Alltag manchmal das Bein stellt.

Aber es wäre schade, wenn wir nur auf das Negative fixiert sind. Denn wir haben auch Positives mitgekriegt, Potenziale und Fähigkeiten entwickelt und Ressourcen entdeckt. Ja es lohnt sich, nachzudenken: Was habe ich in meiner Herkunftsfamilie gelernt, was ich heute anwenden kann? Welches gute Potenzial habe ich erhalten, das mich nun für meinen Job qualifiziert? Welche Lebensweisheiten und nützlichen Verhaltensmuster helfen mir in Herausforderungen und Beziehungen?

Es gibt allerdings Menschen, die sich an nichts Gutes aus ihrer Ursprungsfamilie erinnern können, und trotzdem entdecken sie heute Fähigkeiten, die sie gerade durch die widrigsten Umstände erlernt oder Kraftquellen die sie in der Not gefunden haben. Sie haben besondere Werte entwickelt, wie Diamanten, die nur unter größtem Druck und enormer Hitze entstehen.

Mich ermutigt Jesus, weil er einerseits einlädt: „Kommt alle zu mir, die ihr niedergedrückt und mit Lasten beschwert seid! Bei mir erholt ihr euch. Unterstellt euch mir und lernt von mir! Denn ich bin freundlich und von Herzen zum Dienen bereit. Dann kommt Ruhe in euer Leben.“ (Matthäus 11,28-29).

Und anderseits, weil Jesus selbst gelitten hat und uns echt versteht in unseren Herausforderungen, wie es im Hebräerbrief beschrieben ist:

„Jesus ist auch ein Mensch von Fleisch und Blut geworden. So konnte er durch seinen Tod den Teufel entmachten, der die Macht über den Tod hatte, und konnte die befreien, die durch Angst vor dem Tod ihr ganzes Leben lang versklavt waren. Deshalb musste er seinen Geschwistern in jeder Hinsicht gleich werden, um vor Gott ein barmherziger und treuer Hoher Priester für uns sein zu können; ein Hoher Priester, durch den die Sünden des Volkes gesühnt werden. Und weil er selbst gelitten hat, als er versucht wurde, kann er auch denen helfen, die in Versuchungen geraten.“ (Hebräer 2,14-18).

Da ist alles zusammengefasst, was an fremder und eigener Schuld in unserer Herkunftsfamilie und Biografie passiert ist. Mit Jesus haben wir die Möglichkeit unsere Lebensgeschichte von heute an nicht mehr nach dem alten Muster weiter zu schreiben bzw. zu gestalten.
 

 Jörg Kuhn

Jörg Kuhn

  |  Redakteur und Regisseur

Eigentlich ist er ein Allrounder: Der gebürtige Schweizer liebt Humor mit Tiefgang, ist gelernter Architekt und Pastor und kreiert multimediale Produkte. Er ist verheiratet und hat fünf Kinder.

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Kommentare (4)

Friedmann /

"Teamchef " Toleranz eine Anderer Macht es

Burkhard /

HEILIGUNG/Gesinnungserneuerung, Einstellungsaenderung, Vergangenheitsbewaeltigung - Jesus, machte (-Gottlob-), moeglich. FREU/ND! Jesus, voran - Gott/Gott, Vater mit/durch, uns.
Gruss. Burkhard, die Offbg.12:5;Hebr.1:8. u.a. ...

Erd-Z. /

Werde heute abend unter diesen Augen die Stelle des Hebräerbriefs lesen. Ich gehöre zu den Menschen die nichts Gutes an Auswirkungen der Herkunftsfamilie finden können. Nicht deshalb weil nur mehr

Annerose D.-B. /

Ich finde Ihren Beitrag sehr gut. Ähnliches kenne ich von meiner Ausbildung zur Seelsorgerin beim ICL. Von daher ist mir dieser Themenbereich sehr bekannt und ich finde diesen Zugang zu Problemen mit anderen sehr hilfreich. Man lernt sehr viel über sich selbst daraus.

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